oder …

Kleines Teil mit großer Wirkung – meine zweite Steigbügeloperation

Über fünfzig Jahre ist es her, als ich einen Schlittenunfall hatte, der mich seither immer wieder beschäftigt und beeinträchtigt.

Es war wieder einmal so weit. Seit geraumer Zeit hatte das Gehör, trotz Steigbügel-Implantat, deutlich nachgelassen. Nur konnte ich mich nicht überwinden mir einen neuen Spezialisten zu suchen, nachdem der Arzt, der mir wieder Hören ermöglicht hatte, in den Ruhestand gegangen war. Ich wusste auf was ich mich eventuell einlassen müsste, was mich nicht wirklich motivieren konnte. Ich nahm mir vor auf meine eigene Pensionierung zu warten, um dann aktiv zu werden. Ich entschuldigte mich damit, nicht unbedingt jedes Elend mit anhören zu wollen – wer einmal ein volles Klassenzimmer unbeherrschter SchülerInnen auf sich einwirken lassen durfte, ist unter Umständen dankbar für eine Art Schallbremse.

Im Frühsommer dieses Jahres konnte ich es jedoch nicht mehr verdrängen. Im Ohr lief es nicht rund, da drückte etwas und ein neues, unbekanntes Gefühl verunsicherte mich so, dass ich aktiv wurde. Ich war an einem Punkt an dem es mir auch egal war, wo ein Spezialist praktiziert, Hauptsache alles wird gut. Deshalb endete der September und begann der Oktober im Krankenhaus, weshalb hier, auf meinem Blog, Pause herrschte.

Die 39. Kalenderwoche begann, nach einer glücklicherweise staufreien Anfahrt in den frühen Morgenstunden, mit einer Menge an Untersuchungen, zahlreichem Nachmünzen an der Parkuhr, und ein paar neuen Informationen zur anstehenden Operation. Am frühen Nachmittag war ich platt.

Nach einer kurzen Kaffeepause mit Sohnemann brauchte ich dringend eine, meine Seele tröstende, Sorgen verstehende Freundin, die auch schon auf mich wartete. Mir war inzwischen klar, zur Operation musste ich mit dem Zug anreisen und das Auto zuhause lassen. Selbstständig gut 70 km nachhause fahren zu können erwartete ich nicht.

Dienstag
Koffer packen, Papiere fertig machen, Haushalt und Kater in Betreuung geben, zum Bahnhof und Abfahrt.

Ein leckeres Abendessen in einem netten Lokal, bevor es Krankenhauskost gibt (die nicht einmal schlecht war).

Ein letzter Spaziergang und der Jahreszeit entsprechend ein paar Kastanien mitgenommen, bevor der Ausblick weniger herbstlich, eher nüchtern wird.

Mittwoch
7:00 Uhr, nüchtern, pünktlich vor Ort und kurz vor 8:00 Uhr als Erste unterwegs zur Operation.

13:00 Uhr, zurück auf Station, schlapp und schwindlig bei der kleinsten Kopfbewegung.

17:00 Uhr, Sohnemann kommt zu Besuch, hilft, motiviert, tröstet und stellt ein Geschwistersträußchen auf den Nachttisch.

Donnerstag
Auf der Suche nach meinem Gleichgewicht!
Selbst das Aufrichten mithilfe der elektrischen Bettverstellung machte mich schwindlig, doch langsam klappte zumindest der kurze Weg zum Waschraum im Alleingang. Hinterher war es am besten die Augen zu schließen oder geradeaus zu schauen – auf den traurig verblassten Kunstdruck eines Renoirs.

Gedanklich versuchte ich mich an das Original (Link) zu erinnern und fügte mir die fehlenden Farben dazu – „Der Impressionismus am Beispiel von Auguste Renoir“ war einmal mein Prüfungsthema. Auf diesem Weg kalibrierten sich so auch Schritt für Schritt meine Augen, denn nach der OP wackelten selbst die Buchstaben, die ich zu fixieren versuchte.

Abends erfuhr ich schließlich, wie wichtig, richtig und überfällig dieser Eingriff gewesen war. Das vor über zwanzig Jahren implantierte Steigbügel-Ersatzteil hatte sich nicht nur aus der Verankerung gelöst gehabt. Es hatte Zeit genug gehabt zu wandern und war ins Innenohr abgetaucht.

Winzig klein hatte mir dieses Teil 1991 mein Hörvermögen wieder gegeben, das ich in den Weihnachtferien 1966/67 teilweise verloren hatte.

Während dieser Wintertage hatte es ordentlich geschneit gehabt, so viel, dass der Schnee auch in der Stadt, auf den Rasenflächen zwischen den Häusern, liegen geblieben war. Tolle Sache, ersparte es uns Kindern den weiten Weg bis zum Schlittenberg. Die Rutschpartien hatten jedoch nach kurzer Zeit ihren Reiz verloren. Die Strecken zwischen den Häusern waren wenig steil und so kurz, dass einfach nicht genug Fahrt aufkam. Um die Sache interessanter zu machen fuhren wir zuletzt in kindlicher Sorglosigkeit einen Slalom-Parcour, bäuchlings, der unter anderem den Trockenplatz für Wäsche einschloss.

Ich war diejenige, die auf der Eisfläche unter den Wäscheleinen ins Drehen kam, das Tor zwischen den Stangen verfehlte und ungebremst an der Hauswand landete. Schädelfraktur. Drei Wochen Krankenhaus. Auf einem Ohr schwerhörig.

Ein Vierteljahrhundert später sprach mich während der Behandlung meiner Tochter im Krankenhaus ihr Arzt von der betroffenen Seite an. Als ich nicht reagierte tippte er mich an, fragte mich ob ich in Gedanken oder schwerhörig sei. Die Untersuchung meiner Tochter war nach meiner Antwort Nebensache und meine Schwerhörigkeit ärztliche Chefsache. Schnell war klar, dass mir geholfen werden konnte und drei Wochen später heulte ich vor Freude. Ich konnte hören! Räumlich, in stereo! Alles dank dem oben zu sehenden Kleinteil.

Ein Vierteljahrhundert später brachte mich genau dieses Teil dann beinahe zu Fall. Arg viel weiter hätte es nicht weiter wandern dürfen, ohne bleibenden Schaden anzurichten. Einige meiner gesundheitlichen Probleme der letzten Monate lassen sich inzwischen mit der Fehlposition des Implantats erklären.

Wenn nur jetzt nicht dieser Schwindel wäre! Noch eine Infusion dagegen.

Freitag
Ich wollte es wissen. Ich wollte es versuchen. Ein paar Schritte laufen.
Idee gut.
Durchführung ging daneben.
Zumindest ließen sich im Laufe des Tages neben den Überschriften in der Zeitung auch die Unterüberschriften lesbar entziffern.
Sudokus löste ich lieber noch auf dem Tablet, im Heft traf ich mit dem Bleistift nicht in die Kästchen.

Samstag
Immer an der Wand lang – Link 😉 – erkämpfte ich mir Meter für Meter bis zum Ende des Gangs. Siebzig Schritte, puh!

Sonntag
Inzwischen ließen sich kurze Strecken ohne Festhalten laufen und in der Zeitung, wie in dem vom Sohn geschenkten Buch, blieb das Kleingedruckte schaukelfrei lesbar.
So viel Zeitung am Stück, mit Muße, lesen zu können empfand ich als Geschenk.

Abends stand ich zum ersten Mal wieder frei, ohne Halt zu brauchen! Yeah!!!

Die 40. Kalenderwoche begann früh morgens mit einem Schallleitungstest. Im Schneckentempo und Seemannsgang unterwegs verpasste ich die Visite auf Station. Blöd, aber passiert.

Dafür begeisterte alle eine Blumenlieferung, die von einer ehemaligen Kollegin kam.

Mittags überraschte mich eine Freundin. Sie kam pünktlich zu meiner Mittagszeit, brachte ein Vesper mit und einiges an Zubehör, damit wir zusammen stilgerecht Brunchen konnten. Dazu gehörte auch ein leckerer Kaffee aus hübschen Tassen.

Dienstag
Wieder zum Schallleitungstest, der ein Ticken besser ausfiel.
Der Gang auf meiner Station ließ sich mittlerweile mit 55 Schritten laufen, statt 70.
Nachmittags übte ich, bewegte ich mich und ich eroberte mir Meter für Meter den Garten bzw. Park der Klinik. Immer von Bank zu Bank, Augen schließen und durchatmen, Augen auf und auf ein ruhiges Standbild hoffend.

Farbe!

Mittwoch
Fäden gezogen. Tamponade und Folie aus dem Gehörgang entfernt. Ich durfte zur weiteren Genesung nachhause. Wie erwartet, vermutet und befürchtet hätte ich nicht selbst mit dem Auto heimfahren können. Allerdings war ich auch nicht in der Verfassung für eine Zugfahrt. Sohnemann fuhr mich dann mit einem Mietwagen heim und blieb den Tag bei mir.

Zuhause erwartete mich ein Blütenmeer, das meine Kater sogar in Ruhe ließen!

Donnerstag
Home alone und gelinde gesagt war es ein Scheißtag.
Ohne Klinik-all-inclusive hatte ich mich weit vor der Mittagszeit schon völlig übernommen. Schwindel, Übelkeit, weiche Knie, zittrige Finger, alles Mist und dazu – habe ich bisher noch nicht erwähnt – diese anhaltende ekelhafte Geschmacksverwirrung, die nach solch einer Operation auftreten kann. Das Stück Grillkäse mit Tomatensalsa schmeckte so, als ob ich rostig marinierte Alufolie mit bitterer Seifensoße zwischen den Zähnen hätte.

Freitag
Aus dem Vortag gelernt blieb ich lange im Bett, unterstützt von Katerchen.

Auch den Rest des Tages ließ ich alles Unnötige liegen und machte langsam. Augen zu, durchatmen, Augen auf – kein Schaukeln, super.  Dafür war das Mittagessen nur lecker, wenn ich es direkt in die linke Mundhälfte schaufelte. Was mir allerdings auffiel, Süßes geht beinahe ohne Geschmacksverfälschung. Aber … Süßigkeiten esse ich eigentlich nur in Stresssituationen, z.B. in der Schule, deshalb fehlen bei mir im Vorratsschrank Kekse & Co.!

Da stand ich nun, Freitagabend, hungrig und mit einem Riesenappetit auf KEKSE in meiner Küche, um mir, mangels Vorrat, zwei Bleche superschnelle Haferkekse zu backen. Das Aufheizen des Backofens hat wohl die längste Zeit gekostet. Ansonsten war ich in 20 Minuten fertig. Lecker!!

Samstag und Sonntag
Es geht voran. Der Schwindel lässt nach und ich bewege mich immer sicherer. Am Computer zu sitzen fällt mir jedoch noch schwer. Ob mit oder ohne Kopfbewegung reicht es für ein wuschiges Kopfgefühl völlig aus, wenn ich beim Tippen mitlese, oder die Augen ein paar Mal zwischen Bildschirm und Tastatur wechseln. Zeitungen oder ein Buch lassen sich leichter lesen.

Ganz langsam und immer öfter überrascht mich mein Gehör mit wahrgenommenen Klängen und Geräuschen! Welch eine Freude!!!

Bis die Tage,


Eine kleine Nebengeschichte, die auch ihren Ursprung in der gelebten Vergangenheit hat.

Am OP-Tag schaute die Nachtschwester zuerst mich an, dann auf mein Namensschild, wieder mich und meinte: „Frau Be, ich weiß nicht woher, aber ich bin mir sicher wir kennen uns.“

Die kommenden Nächte konnten wir keinen gemeinsamen Nenner finden, bis wir, über unsere Kinder, auf die Gemeinsamkeit stießen. Vor 33 Jahren hatten wir uns in der Geburtsklinik, 100 km entfernt von hier, im Vorzimmer des Frauenarztes kennengelernt und waren uns in den kommenden Jahren immer wieder begegnet.

Die Welt ist ein Dorf.

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Kommentare

Dass du trotz deiner Schwindelbeeinträchtigung einen solch langen und interessanten Bericht schreiben konntest – alle Achtung! Aber ich habe mitgefiebert und wünsche dir nun schnelle Normalität wieder!
Liebe Grüße Ulrike

Die ersten Tage nutzte ich viel die Diktierfunktion, vor allem auf dem Smartphone – wirklich praktisch.
Und, Danke. Auch ich begrüße jeden Tag einen weiteren Schritt voran!
Viele liebe Grüße,
Karin

Bin über Ulrike Gallustintenlink hier gelandet und habe eben sehr berührt gelesen.Eine zutiefst optimistische Frau hat hiergeschrieben.Gut, das rechtzeitig alles wieder an ort und stelle gerückt worden ist.
Gute Genesung und alles Gute!
karen

Willkommen und schön, dass Du vorbei geschaut hast!
Vielen lieben Dank für Deinen Kommentar, der mir gut getan hat.
Mit vielen Grüße,
Karin

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