oder …

2020 #44 – vom Bruder auf der anderen Seite des kleinen Teichs

Eure Bloggerin hat Schulferien. Karin nimmt sich Urlaub, auch Blog-Urlaub. Jetzt springt der Bruder ein, denn die getreuen LeserInnen meiner Schwester warten sicher auf Neues. Und das gibt es auch, wenn auch der Blickwinkel ein anderer ist diese Woche, denn er kommt aus dem Osten Englands, genauer gesagt, Norfolk, einer großen abgelegenen Gegend im Norden des Ostens von England. 

Hier hat man überwiegend Brexit gewählt. Mit Ausnahme von Norwich, wo 15.000 junge Menschen studieren. Brexit, diese Dummheit, wird nicht viel gutes bringen hier, selbst die Bauern ahnen das, denn ihnen fehlen jetzt schon die Rumänen, die ihre Ernte pflücken. Ebenso fehlen die vielen jungen Menschen aus dem Baltikum und Polen, denn sie halten die Altersheime am Leben, von denen es in dieser Gegend besonders viele gibt. Viele  Pensionäre lassen sich nämlich zum Lebensabend in Norfolk nieder, denn es ist wunderschön, vor allem die Küste. 

In Norfolk zu wohnen und zu arbeiten ist ein Privileg. Karriere machen lässt sich hier allerdings nicht. Dafür sind die Menschen zu gelassen. Es ist alles also ein wenig geruhsamer und noch immer sehr englisch, im altmodischen Sinne. 

Und doch auch hier spürt man die Auswirkungen von Brexit, Boris Johnson und seinen dummreichen Schergen, Probleme mit Verschmutzung, Überfischung der See und steigenden Preisen von Häusern am Meer, letzteres weil jeder Londoner mit ein bisschen Geld hier ein Ferienhaus haben muss. Die Einheimischen mögen die Snobs aus London eher nicht. Man erkennt sie an den großen SUVs und arrogantem Benehmen. Man ist froh wenn sie nach dem Wochenende wieder verschwunden sind.

Außerhalb der Urlaubssaison ist die Ruhe wieder eingekehrt und die vielen seltenen Seevögel haben die wilde Küste wieder für sich. 

Hier an den wilden, meilenlangen Stränden findet man so allerhand Strandgut. Muscheln aller Art, Treibholz, seltene Steine, Sand in allen Farben und die Vistas sind einzigartig. Man muss nur wissen wo. An manchen Orten kann man beim Suchen das Flüstern hören, vom Wind im Schilf. Inspirationen für Malerei und Kunsthandwerk gibt es hier zuhauf. 

Nun soll das kein Werbeartikel werden für Norfolk, aber als ich gestern mit dem Hund am Meer war, hörte ich den Wind im Schilf, sah seltene Vögel und fand so einiges brauchbares am Strand. Da kam mir der Gedanke, dass es vielleicht gut ist, öfter einmal das Telefon wegzulegen, den Computer auszumachen, den Hightech Job, den ich täglich online verrichte, einmal liegen zu lassen und Pandemie eben Pandemie sein zu lassen, um mich einfach mal wieder als Mensch zu fühlen, wenn auch nur für eine kurze Zeit. Es half über Brexit bedingte Ängste und Sorgen hinweg, es half durchzuatmen, es half sich zu besinnen. ‘Wir müssen sein wo wir sind’, sagte kürzlich ein Benediktiner zu mir. Mein Kurzausflug erinnerte mich daran. ‘Living in the present moment’, keine einfache aber sich lohnende Einstellung. Was ist wirklich wichtig, muss man fragen? Was ist wirklich wichtig?

PS: Trump hatte Coronavirus. Schade dass die Lektion nicht mehr bewirkt zu haben scheint. Es bleibt wie Bernie Sanders es vielleicht am besten sagte: „Als Rom brannte, fidelte Nero auf einer Leier. Trump spielt Golf!“

In Pandemiezeiten geht vieles über Videokonferenz. Muss gehen. Das interessante ist, die Hintergründe zu sehen, hinter den Teilnehmern. Und zu hören. Man hört Streitigkeiten im Hindergrund. Kinder beklagen sich oder streiten, Partner fragen genervt nach dem Autoschlüssel, man hört jemanden Geige üben, usw. und man bekommt einen guten Eindruck, wie die Kollegen leben. Ein ungemachtes Bett schaut durch, eine Lavalampe oder eine Abwesenheit von Büchern. Man sieht traurige Pflänzchen oder üppig gepflegte Bonsais, vielleicht eine vergessene Flasche Whisky auf dem Küchentisch (am frühen Morgen schon, wie ich gesehen habe) und sehr viel I*KEA. Seltener sind ansprechende Bilder. Und man lässt sich gehen mit den Kleidern oder der täglichen Rasur. Es ist nicht einfach, den ganzen Tag über Videokonferenz zu kommunizieren, ohne sich doch, Freund oder Feind, menschlich in bisher eher seltenerer Weise, näher zu kommen. Eine unerwartete menschliche Seite der Pandemie. Sie gefällt mir. 

Dass die Briten – vielleicht sollte ich eher Engländer sagen – anders sind als die Deutschen, ist vielen bewusst. Aber warum das so ist, ist sehr viel schwerer zu beschreiben als man es zunächst annimmt. Es ist ein eher verängstigtes Völkchen finde ich und möglicherweise aus gutem Grunde. Aber dafür singt man bei dem alljährlichen letzten Proms-Konzert der BBC dann die patriotischen Liedchen umso lauter, eben wie Kinder singen beim Wandern in tiefen, dunklen Wäldern. Aber sie sind trotzdem immer noch höflicher als der Durchschnitt, es sei denn man redet von Brexit, Brüssel oder Fußball gegen Deutschland. Immer und immer wieder werden bei Statistiken Vergleiche gezogen mit Deutschland und fast immer zieht man den Kürzeren. Das hat seine Gründe, aber nicht wenige davon sind unbedingt schlecht. Zumindest hier in Norfolk gehen eben die Dinge etwas langsamer und mir scheinen die Menschen weniger gehetzt als im Deutschland, wie ich es kenne. Man kann es eben nicht vergleichen und doch scheint es hier diesen Zwang zu geben, es zu tun. Sollten sie nicht. Brauchen sie nicht. England hat seinen eigenen Charme und einer davon ist, dass man eben alles etwas weniger akribisch durchorganisiert. Geht auch und vielleicht kann man davon auch etwas lernen als Deutscher.

Gern gehört.

Schönes Wochenende!
Macht’s gut, bis die Tage,
dann wieder von meiner Schwester,


Verlinkt mit dem Samstagsplausch bei Andrea Karminrot.


Mehr Gedanken vom „kleinen“ Bruder gibt es hier.

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Kommentare

Hallo Karins Bruder. Dein Einblick nach Norfolk ist interessant. Ein klein wenig kann ich Gleichnisse zu Berlin ziehen. Plötzlich ist der Wohnungsmarkt völlig überzogen, weil es schick ist hier eine Wohnung zu besitzen, nicht zum wohnen, wohlgemerkt. Viele stehen nur leer!
Ich wünsche deiner Schwester einen wohlverdienten Urlaub und für dich ein ruhiges und entspanntes Wochenende
Andrea

Oh, das war ein wubderschöner Beitrag! Danke sehr. Es ist so so lange her, dass ich dort war und ehrlicherweise nur als 2Tagesstopp (gen Yorkshire, bzw auch zurück) aber an den Strand erinnere ich mich noch sehr gut.
Zur „Insel“ hat es mich und auch den Rest der Familie mitlerweile gern gezogen. Bestimmt bald auch wieder und dann sehr gern wieder gen Norden.
Ich wünsche viel Kraft (wir kennen das hier auch mit den vielen Videokonferenzen und Telkos) es ist nicht immer leicht
Und noch mal Danke für einen schönen Einblick (vielleicht gibt es bald mehr?)
Liebe Grüße
Nina

O.K. Noch mal schnell orientiert, wo es diese tollen Strände gibt. Ich war nur zwei Mal in England. Das erste Mal, bevor sie in die EU aufgenommen wurden. Nach einem Vierteljahr wurde ich rausgeschmissen. Das zweite Mal war ich um die Jahrtausendwende während der Zeit des Rinderwahns. Beide Male wollten die Engländer immer nur mit mir über diese Themen diskutieren. Ich fand sie sehr liebenswürdig, aber recht schrullig ( und extrem am Thema Sex interessiert – ich habe in dieser Hinsicht meinen Wortschatz sehr erweitert ). Ich muss nun am Ende meines Lebens sagen, dass mir andere Völker Europas dann doch sehr viel näher gekommen sind und die Entscheidung für den Brexit hat die Fremdheit anwachsen lassen.Da ist es spannend, wenn jemand seine ganz anderen Erfahrungen einmal postet. Danke!
Bleiben Sie gesund!
Astrid

Herrliche Bilder einer traumhaften Landschaft und sehr berührende Gedanken. Da habe ich viel mitzunehmen.
Manches erinnerte mich an meine Tochterfamilie, die jenseits des ganz großen Teiches in Vermont lebt. Ja, dem Vermont, das Bernie Sanders vertritt, und das unter den Zweitwohnungen der Reichen aus NY, NJ und MASS leidet.
Ein wunderbarer Beitrag!
Danke nach Norfolk und gute Erholung an Karin.
Liebe Grüße
Andrea

Ich kann mich den Beiträgen nur anschließen: ein wunderbarer Beitrag mit so schönen Fotos (der fliegende Hund!!!!). Leider kenne ich England nicht, oder nur aus Büchern und dem Fernsehen. So tolle Strände hätte ich da nicht vermutet.

Hach wie schön, wenn einem der Bruder im Urlaub vertritt:-) Wenn man die wunderschönen Bilder von Norfolk ansieht, könnte man glauben dass es der schönste Ort auf Erden ist. Mich reizt es jedenfalls einmal dort spazieren zu gehen. Ich kenne nur Englands Südküste und die Städte.
L G Pia

Na, das freut mich ja nun wirklich, so sehr viele nette Kommentare zu lesen und dass die ‘Urlaubsvertretung’ Freude bereitet hat.
Macht’s gut alle miteinander und vielen Dank.

Karin’s Bruder

vielen dank für die schönen fotos und die interessanten gedanken!
liebe grüße aus dem elm, wo die uhren auch etwas langsamer gehen!
und dir liebe karin, wünsche ich schöne ferien!
mano

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